Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von Podigee. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Mehr InformationenIn dieser Folge ist Wiebke zu Gast in unserem Podcast. Sie ist als Tochter und Schwester angehörig – und das seit den 1970er Jahren. Als ihre Familienmitglieder erkrankten, wurde noch nicht viel über psychische Erkrankungen und den Umgang mit ihnen gesprochen. Wiebke musste oft allein zurechtkommen und hatte nicht viel Unterstützung. Aber was hat sich bis heute geändert? Was ist gleich geblieben?
Wir sprechen mit Wiebke darüber, wie sie diese Zeit bis heute erlebt hat und was unsere Erfahrungen als Angehörige einer neuen Generation sind.
Außerdem erzählt sie uns über ihr Engagement als Vorstandsvorsitzende beim Landesverband NRW der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen – und was sie eigentlich in Besuchskommissionen für psychiatrische Krankenhäuser macht.
Weiter unten findest du einen Themenüberblick (inkl. Zeitstempel) und das Transkript der Folge.
Weiterführende Links:
Webseite zum Landesverband NRW:
https://www.lv-nrw-apk.de/
Mehr Informationen zu den Besuchskommissionen:
https://www.lv-nrw-apk.de/wir-ueber-uns/was-wir-tun/besuchskommission
Instagram:
@locating.your.soul
@peer4u_chatberatung
@familienselbsthilfe
Falls du direkt zu einem Thema in der Folge springen möchtest:
03:07
Thema Kind psychisch erkrankter Eltern. Wiebke beschreibt ihre Kindheitserfahrungen, die Zustände in der Psychiatrie in den 1970ern und die fehlende Aufklärung über die Erkrankung ihrer Mutter. Sie erfuhr erst mit zwölf Jahren von der Diagnose ihrer Mutter. Ihr Bruder erkrankt später auch.
10:48
Thema: Eine neue Generation. Wiebke und Julia, die in den 2000ern als Kind ein Elternteil in der Psychiatrie besuchte, tauschen sich über ihre Erfahrungen und Entwicklungen bei der Behandlung aus. Besonders gehen sie dabei auf die Unterstützung von Angehörigen in der Psychiatrie ein. Beide berichten von fehlender (kindgerechter) Kommunikation und Unterstützung.
47:50
Thema: Besuchskommission. Wiebke spricht über ihre Arbeit in den Besuchskommissionen in NRW und die Verbesserungen in den Psychiatrien. Sie ermutigt zur Teilnahme an diesen Kommissionen.
Transkript der Folge
Nele
00:02 – 00:10
Herzlich willkommen bei unerhört nah, dem Podcast des Bundesverbandes der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen. Wir, das sind einmal ich, Nele
Julia
00:10 – 00:10
Und ich, Julia
Nele
00:10 – 00:21
sprechen offen mit verschiedenen Gästinnen über die Erfahrungen und Herausforderungen von Angehörigen psychisch erkrankter Menschen. Erlebt mit uns, was es heißt, unerhört nah dran zu sein.
Julia
00:32 – 00:54
Hallo und herzlich willkommen zu einer neuen Folge UNERHÖRT NAH von uns mit mir und Nele. Und heute haben wir eine ganz besondere Gästin, auf die wir uns schon länger gefreut haben, und zwar Wiebke Schubert von unserem Landesverband NRW. Hallo Wiebke.
Wiebke
00:54 – 00:54
Ja, hallo Julia, hallo Nele.
Julia
00:54 – 01:14
Wir haben heute so ein bisschen das Thema überlegt, dass wir gerne über Generationen sprechen würden, weil Wiebke ein paar Jährchen älter ist als wir. Da kannst du ja gleich nochmal was zu sagen. Und wir uns dachten, das könnte ja ganz spannend sein, so ein bisschen zu gucken, wie die Erfahrungen in den Zeiten sind sozusagen
Julia
01:14 – 01:29
Wie sich das entwickelt hat über all die Zeit. Was da so passiert ist, wie wir das wahrgenommen haben aus unseren Geschichten, wie du das wahrnimmst. Und deswegen würde ich dich erst mal bitten, Wiebke, stell dich doch mal vor. Wer bist du, was ist deine Geschichte?
Wiebke Schubert
01:29 – 01:44
Ja, mein Name ist Wiebke Schubert, ich bin 57 Jahre alt, komme aus Ratingen. Und meine Geschichte ist die eines Kindes einer psychisch erkrankten Mutter. Konkret, was mir damals gesagt wurde, einer paranoiden Schizophrenie.
Wiebke Schubert
01:45 – 01:50
Und ich habe tatsächlich auch noch einen Bruder, der ebenfalls psychotisch erkrankt ist.
Julia
01:51 – 01:55
Das heißt, du wirst wirklich auch doppelt belastet.
Wiebke Schubert
01:55 – 01:57
Ja, also gefühlt doppelt, dreifach und vierfach belastet.
Julia
01:57 – 02:11
Deswegen erstmal so ein bisschen die Frage, wann ist deine Familie erkrankt und wann hast du überhaupt gemerkt, dass sie erkrankt ist?
Wiebke Schubert
02:13 – 02:29
Also meine Mutter ist erkrankt mit der Geburt meines Bruders. Und zwar hat sie eine postpartale Psychose gehabt. Das ist etwas seltener als eine postpartale Depression. Und sie hat, das ist leider noch eine zweite Erkrankung bekommen, einen Diabetes.
Wiebke Schubert
02:29 – 02:52
Und diese Kombination von Psychose und Diabetes war eh schon eine, die fast tödlich ist. Das hat der Arzt damals meinem Vater gesagt. Meine Mutter war dann erst mal zweieinhalb Monate weg nach der Geburt meines Bruders, so im Zuge dessen. Weil man eben merkt, dass sie anders reagierte, dass sie das Kind auch anders behandelte.
Wiebke Schubert
02:52 – 03:07
Eine Tante von mir hat gesagt, sie hat meinen Bruder behandelt wie einen Gegenstand. Also kein Schäkern, kein Tüddeln, kein Knuddeln. So was in der Art, das war für ihn natürlich schon nicht gut. Ich kann mich an diese Phase selbst nicht erinnern, ich weiß nur, dass sie weg war.
Wiebke Schubert
03:07 – 03:25
Dann kam sie zurück, war verändert. Sie hatte eine andere Wahrnehmung der Realität, so würde ich es jetzt heute nennen, das ist also eine Psychose. Sie hat mit Menschen geredet, die ich nicht im Raum gesehen habe. Sie hat sich ganz anders verhalten, das war eigentlich für mich ein richtiger Schock.
Wiebke Schubert
03:25 – 03:55
Erst, dass sie weg war, ich war ja noch ein junges Kind mit zweieinhalb Jahren, und dann noch dieses vollkommen geänderte Verhalten. Man merkte schon, irgendwas stimmt nicht und sie hat sich einfach nicht mehr so gekümmert, wie ich es vorher gewohnt war. Also man erwartet von seiner Mutter, dass sie einen beschützt, dass man ihr vertrauen kann, dass sie alles Notwendige tut. Und bei mir war das so, dann ein Ereignis, an das ich mich einfach gut erinnern kann, war, ich kam in den Kindergarten, wir lebten damals in Düsseldorf, es war Karnevalszeit und ich sollte eigentlich kostümiert kommen.
Wiebke Schubert
03:56 – 04:03
Was hatte ich nicht? Ein Kostüm. Dann wurde ich im Kindergarten, Anführungszeichen, zwangskostümiert. Und das ist mir natürlich aufgefallen.
Wiebke Schubert
04:03 – 04:13
Oder dass es plötzlich hieß auf der Straße, ich habe mit anderen Kindern gespielt. Dann wollten die plötzlich tatsächlich nicht mit mir spielen, das war 1970, weil ich das Kind der Verrückten war.
Wiebke Schubert
04:14 – 04:26
Und dann stehen sie natürlich da und denken, das ist schon schwierig. Und dann merkt man so, es ist irgendetwas anders. Ich könnte jetzt noch viel über meine Kindheit erzählen, ich weiß aber gar nicht, ob ich das soll.
Nele
04:26 – 04:40
Ich kann mir vorstellen, dass damit auch verschiedene Gefühle einhergegangen sind, und ich habe mich gerade gefragt, was war da so vorherrschend bei dir, wenn du das so benennen kannst? Warst du sehr oft wütend? Hattest du gleichzeitig vielleicht auch Verständnis?
Nele
04:40 – 04:48
Du bist dann ja wirklich auch immer noch seit zweieinhalb Jahren damit konfrontiert gewesen und wie haben sich da die Gefühle zu entwickelt?
Wiebke Schubert
04:48 – 05:10
Also in dem Kindergartenalter war es einfach nur Wut. Meine Mutter war eben erkrankt und ich sollte dann noch rücksichtsvoll sein, verständnisvoll sein und ich wusste überhaupt nicht, wieso. Also ich erwartete ja, dass meine Mutter sich um mich kümmert. Wieso sollte ich jetzt etwas tun, was meiner Mutter hilft?
Wiebke Schubert
05:10 – 05:28
Und man hatte mir bis dato nämlich noch gar nicht erklärt, dass sie überhaupt krank war. Das habe ich mit zwölf erfahren. Das heißt, und das eigentlich nur, weil mein Bruder, damals der etwas aktivere Teil, meinen Vater mal irgendwann gefragt hat, was denn überhaupt los wäre mit meiner Mutter. Also er hat das tatsächlich besser verstanden als ich.
Wiebke Schubert
05:29 – 05:39
Und dann hat mein Vater nur gesagt, paranoide Schizophrenie, das ist eine Erkrankung und das war’s. Also keine Erklärung, was ist denn das? Welche Auswirkungen hat das? Gut, die habe ich selber bemerkt.
Wiebke Schubert
05:39 – 05:44
Aber es war schon nicht der Standard, der heute da ist.
Julia
05:45 – 05:52
Das heißt, du bist aber auch wirklich zehn Jahre quasi durch die Welt gelaufen und hast zwar gemerkt, dass was anders ist, aber konntest gar nicht benennen, was überhaupt.
Wiebke Schubert
05:52 – 06:10
Ja, und ich habe es tatsächlich auch noch für normal gehalten, obwohl es anders war. Weil ein Kind in dem Alter hält ja alles, was in seiner Familie ist, erstmal, es nimmt es so an, hält es für normal, ist jetzt blöd ausgedrückt, sondern es nimmt es so an, wie es ist und geht damit um. Und für mich, es hat eigentlich nichts verändert.
Wiebke Schubert
06:10 – 06:26
Ich hatte jetzt einen Namen, wusste eigentlich nicht so genau, was es heißt. Aber ich hab nur gemerkt, dass ich sehr viel selber machen musste. Ich hab gemerkt zum Beispiel, dass andere Kinder in die Musikschule gegangen sind. Bei mir hieß das, ich besorge mir die Anmeldung in der Musikschule.
Wiebke Schubert
06:26 – 06:45
Ich war dann damals sechs, also konnte schon ein bisschen schreiben, hab das dann ausgefüllt, mein Vater hat das unterschrieben. Dann hab ich Geld bekommen, um die Blockflöte und das Notenheft oder dieses Heft mit diesen Liedern zu kaufen. Dann bin ich dann zur Musikschule spaziert, alles so im Bereich von 200 Metern um die Wohnung, das geht also alles noch. Und hab mich dann da angemeldet.
Wiebke Schubert
06:45 – 06:48
Das war ganz selbstverständlich, weil ich wusste, meine Mutter schafft das nicht.
Nele
06:49 – 07:10
Also da hattest du dann schon so dieses Gefühl für, auch als Sechsjährige, ich muss hier selbst die Initiative ergreifen, also ich muss mich selbst so ein bisschen… Was mich jetzt an der Stelle noch mal interessieren würde, war deine Mama danach auch noch mal in der Klinik oder wirklich nur direkt nach der Geburt deines Bruders oder gab es weitere Aufenthalte?
Wiebke Schubert
07:10 – 07:27
Leider nein, aus heutiger Sicht. Das waren die Zustände 1970, das war vor der sogenannten Psychiatrie-Enquete. Die Psychiatrie-Enquete hat dazu geführt, dass sich die Zustände deutlich verbessert haben in den Kliniken. Mein Vater hat damals meine Mutter gesehen in einem 30-Betten-Schlafsaal.
Wiebke Schubert
07:27 – 07:40
In einem alten Gebäude mit fragwürdigen Behandlungsmethoden. Und hat dann entschieden, nie wieder, nie wieder meine Mutter in eine Klinik. Das, was die Psychiatrie da macht, ist menschenunwürdig. Das geht nicht.
Wiebke Schubert
07:40 – 07:56
Wir müssen das irgendwie anders handeln. Das ist dann zulasten meines Bruders und zu meinen Lasten und zu seinen Lasten letztendlich auch gewesen, weil wir das alles ausbaden mussten. Meine Mutter hatte eine paranoidische Schizophrenie. Das heißt nicht unbedingt, dass jemand krankheitseinsichtig ist.
Wiebke Schubert
07:56 – 08:10
Sie hat alle anderen für verrückt gehalten, einschließlich ihrer Kinder. Aber leider nicht sich selbst. Das ist nicht abwertend gemeint, sondern einfach erkrankt. Und diese Zustände in den Kliniken …
Wiebke Schubert
08:11 – 08:26
Die haben meinen Vater so lange geprägt, bis dann tatsächlich auch leider mein Bruder erkrankt ist. Und wo es dann tatsächlich irgendwann nicht mehr anders ging, als dass dieser dann in eine Kinder- und Jugendpsychiatrie musste. Das war in den 80ern dann aber schon. Also die Zustände schon mal leidlich besser.
Wiebke Schubert
08:27 – 08:54
Auch nicht wirklich gut, aber da hatte ich dann tatsächlich gefühlt den ersten Kontakt mit einer Klinik. Und zwar gab es sehr neumodisch damals eine sogenannte Familientherapie. Das heißt, wir saßen vor einer großen Spiegelwand, also alle anderen konnten uns hinter der Spiegelwand, die Behandler konnten uns sehen. Wie wir dann als Familie auch agierten und die Menschen versuchten, also die Behandler versuchten, meine Mutter dazu zu bringen, adäquat auf meinen Bruder zu reagieren.
Wiebke Schubert
08:55 – 09:16
Ich muss jetzt noch darüber lachen, ehrlich gesagt, wenn ich daran denke. Das war wirklich ein Bild für die Götter. Meine Mutter schwer psychotisch und sollte dann bestimmte Sätze sagen meinem Bruder gegenüber und der sollte bestimmte Sätze sagen. Und ich dann immer dazwischen, ich hatte das ganze Spielchen, ich war da inzwischen Jugendliche zu Hause, ja gesehen und wollte dann sagen, meine Analyse ist aber so und so.
Wiebke Schubert
09:16 – 09:35
Ich wurde noch nicht mal drangenommen, also ich wurde, Fingerschnipsen sozusagen, nicht gesehen. Und ab und zu hat noch mein Vater gesprochen, als Geschwisterkind bin ich von allen Behandlern, sowohl von einem Psychiater als auch von einer Psychologin nicht gesehen worden. Sie haben mich nicht drangenommen und ich war die eine. Mein Vater war ja im Büro, der war von acht bis acht im Büro.
Wiebke Schubert
09:36 – 09:52
Und ich war diejenige, die zu Hause gesehen hatte, wie die Interaktion ablief. Ich hätte was dazu sagen können. Aber es war das wörtliche Nicht-Gesehen-Werden mit all den Bedürfnissen, dass ich vielleicht auch mal drüber reden wollte, das hat man auch nicht gesehen. Und das nannte oder schimpfte sich Familientherapie.
Wiebke Schubert
09:53 – 09:55
Es wurde nur ein Teil der Familie gesehen.
Julia
09:55 – 10:20
Das heißt, die Entwicklung war bis dahin zwar weg von dem Riesenschlafsaal, wo vielleicht gar nicht, vielleicht sehr fragwürdig behandelt wird, hin zu, wir probieren jetzt mal Sachen ohne eigentlich überhaupt die Angehörigen, also in dem Fall dich, wirklich mit einzubinden auch. Also es war ja vielleicht eine nette Idee, aber irgendwie noch nicht so ganz durchdacht, würde ich jetzt einfach mal behaupten.
Wiebke Schubert
10:20 – 10:37
Ja gut, sie mussten sich ja auch ausprobieren. Aber selbst mein Vater wurde ja kaum eingebunden. Und dass der Erwachsene, der ja der gesunde Erwachsene war und sich um alles kümmern musste, im Anzug. Mein Vater war Wirtschaftsprüfer, Rechtsanwalt, also im Anzug da in diesem Zimmer saß.
Wiebke Schubert
10:37 – 10:48
Und mit Doktortitel und allem pipapo. Und überhaupt nicht wahrgenommen wurde irgendwie. Und sie sagt, die haben immer nur diese Beziehung meiner Mutter, meinem Bruder gesehen.
Wiebke Schubert
10:48 – 10:50
Dass natürlich da andere auch noch interagierten in dieser Familie.
Nele
10:53 – 11:24
Ist ja eigentlich dieser klassische Fall wieder von Angehörigen, die außen vor gelassen werden, die das Thema tagtäglich mitbekommen in den eigenen vier Wänden, die diese Menschen miterleben, die aber wirklich nicht abgeholt werden, nicht aufgefangen werden, weil das wäre jetzt nämlich auch noch eine Frage von mir gewesen, ob du in der Klinik auch irgendeine Form von Unterstützung erfahren hast. Ärztinnen oder Ärzte gab, die dir erklärt haben, das ist los mit deiner Mama, das ist los mit deinem Bruder. Oder ob das gar nicht wirklich Aufmerksamkeit bekommen hat.
Wiebke Schubert
11:24 – 11:36
Also mit mir, ich kann einen Satz sagen, mit mir hat man nicht geredet. Jedenfalls nicht als Kind. Meinem Vater wurde natürlich ein bisschen erklärt, was jetzt los ist. Er musste ja dann auch verschiedene Sachen in die Wege leiten und Anträge stellen und was weiß ich nicht alles.
Wiebke Schubert
11:37 – 12:00
Aber mit mir hat niemand ein Wort geredet. Und auch meine Mutter war dann niemals wieder in einer Klinik, sie ist ja immer zu Hause geblieben, nur mein Bruder war dann weg. Das Problem, man kann sich ja vorstellen, die beiden, die Klinikmitarbeiter versuchten ja den Konflikt zwischen meiner Mutter und meinem Bruder zu regeln. Aber einer war ja, die eine war hier und der andere war dort.
Wiebke Schubert
12:00 – 12:06
Und haben gedacht, das wäre die Ursache, das war es nicht. Also es war ein bisschen schwierig.
Julia
12:06 – 12:12
Das klingt ein bisschen absurd, eine nicht behandelte, psychotische Frau.
Wiebke Schubert
12:12 – 12:23
Doch, behandelt schon. Entschuldigung, wenn ich dazwischen gehe. Wir hatten Gott sei Dank auch in dem Wohnort, in dem ich lebe, auch in dem Vorort, sowohl einen niedergelassenen Psychiater als auch eine Psychiatrie.
Wiebke Schubert
12:23 – 12:35
Sie ist zwar nie in dieser Psychiatrie gewesen, aber zu dem Psychiater ist sie gegangen, wahrscheinlich mit leichtem Druck oder stärkerem Druck meines Vaters. Und hat eine sogenannte Depotspritze bekommen. Das heißt, das wirkt hier schon etwas länger.
Wiebke Schubert
12:35 – 12:45
Und das lief in aller Regel. Sie war schon behandelt. Sie hat auch wegen ihrer Erkrankung keinen Führerschein gehabt. Das wusste sie auch.
Julia
12:47 – 13:09
Ja gut, aber trotzdem, dass dann so quasi erwartet wird, dass die beiden Menschen mit den größten psychischen Problemen der Familie da so zusammenkommen, während die beiden anderen das vielleicht auch irgendwie neutraler beurteilen können auf einer gewissen Ebene, oder da ein anderes Gespür nochmal für haben, einfach außen vor gelassen werden, ist ja schon… Ja, sehr bezeichnend für die damaligen Zustände, würde ich behaupten.
Wiebke Schubert
13:09 – 13:18
Die Haltung! Weil mein Bruder und ich haben hinterher Witze drüber gemacht. Also wir haben uns sehr gut amüsiert über diese ganzen Sitzungen. Es waren mehrere.
Wiebke Schubert
13:18 – 13:26
Ich musste auch immer mit, durfte nichts sagen. Das ist so mein Standardspruch zu dem Thema damals. Ja, das fiel mir schwer. Also kann man sich ja vorstellen.
Julia
13:26 – 13:30
Aber das heißt sogar dein Bruder hat bemerkt, dass das nicht wirklich funktionieren kann?
Wiebke Schubert
13:30 – 13:34
Nein, das funktionierte nicht. Also es war ja offensichtlich. Ich weiß gar nicht, warum sie das versucht haben.
Wiebke Schubert
13:35 – 13:51
Also eins war Intervention, wenn vorher 14, 15 Jahre alles schief gegangen ist. Das macht’s nicht. Ich hätte Ihnen den Erfolg ja gegönnt. Ich wäre ja froh gewesen, wenn das geklappt hätte.
Wiebke Schubert
13:51 – 14:12
Weil ich hab mit dieser Erkrankung auch so gefühlt meinen Bruder verloren. Ich hatte nicht nur eine Mutter, die zwar physisch anwesend war, aber nicht immer geistig, aber ihre Mutterfunktion jedenfalls nicht erfüllt hat. Ging mir mein Verbündeter ja sozusagen auch noch flöten. Mein Bruder ist so ein bisschen schelmisch, der hat so einen versteckten Witz.
Wiebke Schubert
14:12 – 14:25
Und wir konnten uns immer gut, das ist so das, was ich auch an ihn mag. Und das ging, war plötzlich weg. Er hat sich auch total verändert. Für meinen Vater war das ein Riesenschock.
Wiebke Schubert
14:25 – 14:42
Wir waren ja eigentlich schon ein bisschen traumatisiert durch die Erkrankung meiner Mutter, zumindest die Kinder und mein Vater wahrscheinlich auch. Und dann mein Bruder, der vorher der Strahlemann war, der guter Schüler war, der ein guter Sportler war, der sozusagen der Kronprinz. Ich war auch noch das Mädchen.
Wiebke Schubert
14:42 – 14:47
Und der erkrankt. Da ist mein Vater auch nicht wirklich drüber weggekommen.
Nele
14:49 – 15:03
Es ist denn so, dass dann spätestens nach der Erkrankung deines Bruders, also als das dann klar war, dass da auch was vorliegt, konnte dein Vater dann mit dir zumindest auch offener darüber sprechen? Oder wurde das trotzdem tabuisiert, weil es einfach auch sehr schmerzhaft war?
Wiebke Schubert
15:03 – 15:21
Ja, man muss ein bisschen bedenken, mein Vater ist Jahrgang 1937 gewesen. Und es ist ja bekannt, was im, ja wie sagt man das so politisch korrekt, im dritten Reich unter den Nazis, was da alles passiert ist. Und das war meinem Vater voll bewusst. Er hätte es am liebsten gehabt, dass das noch nicht mal irgendwo in den Akten war.
Wiebke Schubert
15:23 – 15:41
Mein Bruder ist auch relativ spät behandelt worden, nachdem er tatsächlich auch gewalttätig geworden war in der Familie. Und das dann einfach nicht mehr anders ging. Sie müssen sich ja vorstellen, mein Vater ist die Generation, die im Hinterkopf noch gewisse Ängste hat. Das war etwas, was man nicht nach außen getragen hat.
Wiebke Schubert
15:41 – 15:58
Ich habe das nie gesagt bekommen. Ich habe mit meinem Vater auch nie darüber gesprochen, so gesehen. Oder über diese Erkrankung jedenfalls nicht in Zeit meiner Kindheit, Jugend, auch eigentlich erst, als ich schon selber so über 50 war. Haben wir mal ansatzweise drüber gesprochen.
Wiebke Schubert
15:58 – 16:21
Aber es galt immer so ein gefühltes, also nie ausgesprochenes Schweigegebot. Es muss die Fassade gewahrt werden, man redet nicht drüber. Weil das tatsächlich gefährlich werden könnte, nicht nur nach dem Motto, was die Nachbarn sagen oder was ist das mit dem Ansehen der Familie, sondern auch, was könnte dann passieren, wenn die Zeiten mal anders werden. Das ist die Generation, das darf man nicht vergessen.
Julia
16:22 – 16:51
Aber was hat das, also ich stelle mir das auch für dich wahnsinnig belastend vor, wenn man quasi dieses lernt, ich darf gar nicht darüber reden, weil wer weiß, was damit angestellt wird. Was hat das für Konsequenzen, wenn ich darüber sprechen würde? Also da würde mich noch mal interessieren, wie dich das als Kind und auch als Jugendliche, junge Frau beschäftigt hat. Also hast du da deinen eigenen Weg versucht zu finden oder dachtest du einfach, nee, okay, scheine ich nicht darüber reden zu dürfen, also halte ich die Klappe?
Wiebke Schubert
16:52 – 17:05
Also für mich war das einfach nur, das ist halt so, damit muss ich umgehen. Ich bin eher so ein Mensch, der das, man merkt das schon, nicht immer so hinterfragt. Mein Bruder war ja derjenige, der die entscheidende Frage gestellt hat. Ich hab mich einfach dran gehalten.
Wiebke Schubert
17:05 – 17:15
Also ich hatte tatsächlich auch genug anderes zu tun. Mein Bruder ist erkrankt, in seiner Pubertät, da war ich dann schon in entweder Abi-Vorbereitung, also 12. bis 13. Schuljahr damals ja noch.
Wiebke Schubert
17:17 – 17:39
Ich hatte alle möglichen Probleme. Ich hatte einen Weg gefunden, damit umzugehen, aber ich habe das nicht wirklich hinterfragt. Was es aber auch bedeutete, dass natürlich überhaupt keine Hilfen in die Familie kamen. Also was heute passiert, dass eine Familienhelferin bei einer bekannt psychisch erkrankten Mutter zum Beispiel in die Familie kommt und mal einfach guckt, wie läuft das denn da?
Wiebke Schubert
17:39 – 17:43
Geht das da? Brauchen die Familie Hilfe? Läuft der Haushalt? Ganz einfache Dinge.
Wiebke Schubert
17:44 – 18:00
Und dann natürlich guckt, wie ist das mit den Kindern. Wir haben zum Beispiel in Ratingen sogenannte Familienhebammen, die nach der Geburt eines Kindes kommen. Da wäre das heutzutage schon aufgefallen, wie meine Mutter auch mit meinem Bruder umgegangen ist. Und hätte schon überlegt, da wären Hilfen, frühe Hilfen vielleicht sogar in die Wege geleitet worden, auch für uns Kinder.
Wiebke Schubert
18:00 – 18:12
Frühe Hilfen ist, glaube ich, ein Fachwort. Aber jedenfalls Therapien oder dass jemand die Familie im Auge hat, dass da drauf geguckt wird, was da passiert. Schafft meine Mutter das?
Wiebke Schubert
18:12 – 18:27
Auch wenn das die anderen Erwachsenen in der Familie, wie zum Beispiel mein Vater jetzt auch, die müssen das ja auch realisieren. Mein Vater kannte vorher das Thema gar nicht. So jedenfalls nicht in der eigenen Familie. Und hatte überhaupt keine Wege oder keine Vorbilder, wie man mit so etwas umgeht.
Wiebke Schubert
18:28 – 18:30
Das kommt ja noch dazu, das war ja auch so ein bisschen hilflose Generation.
Nele
18:30 – 18:48
Wussten denn außerhalb der Kernfamilie auch andere Verwandte darüber Bescheid? Also gab es irgendwen, der das mitbekommen hat oder Personen, mit denen du dich sonst noch austauschen konntest, die dir nahestanden? Muss ja nicht unbedingt Verwandtschaft sein, aber wäre jetzt so die nächste Frage, wen gab es da vielleicht noch?
Wiebke Schubert
18:48 – 19:03
Nein, würde ich sagen. Also eigentlich austauschen nicht, aber zunächst ist ja erstmal das Verhalten meiner Mutter gegenüber meinem Bruder bemerkt worden. Da muss ich dazu sagen, meine Mutter hatte drei Schwestern, eine Ärztin, eine Lehrerin und eine Hausfrau. Jetzt raten Sie mal, eine Hausfrau mit drei Kindern, wer hat es gemerkt?
Wiebke Schubert
19:03 – 19:15
Die Hausfrau. Also mit den drei Kindern vor allem. Und die Familie ist von der ganzen Familienkultur her eher jemand, die, wenn es ein Problem gibt, das Problem lösen. Also haben sie sich überlegt.
Wiebke Schubert
19:16 – 19:32
Die Ärztin hat gesagt, das könnte eine Schizophrenie sein, mein Fachwissen. Wir suchen eine Psychiatrie. Meine Mutter kam in die Psychiatrie, mein Vater hat das gar nicht so in die Wege geleitet. Also tatsächlich initiativ ist die Familie meiner Mutter geworden.
Wiebke Schubert
19:32 – 19:51
Mit bekannten Ergebnissen. Was mein Vater dann als Ratschlag auch nicht mehr so gut fand. Meine Tante, die auch meine Patentante ist, besagte Hausfrau, hat dann gesagt, du musst jetzt stark sein. Damals war ich Jugendliche, das war aber so ein Satz, wo dann irgendetwas kam zum Thema.
Wiebke Schubert
19:51 – 20:11
Meine Oma hat mir in meinem Poesie-Album einen Spruch hineingeschrieben: „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott.“ Ich dachte, ja, okay, das kann ich nachvollziehen, das habe ich auch gemacht. Sie sahen wohl, dass das Kind tatsächlich Hilfe brauchte, aber die lebten tatsächlich etwas weiter weg im Westfälischen. Während meine väterliche Familie und unsere Familie auch im Rheinland wohnt.
Wiebke Schubert
20:11 – 20:25
Oder jetzt auch noch wohnt. Und diese verschiedenen Familienkulturen prallten da schon so ein bisschen aufeinander. Also eine Familie, die so aktiv ein Problem löst. Mein Vater ein bisschen paralysiert und wusste noch gar nicht, was er machen sollte.
Wiebke Schubert
20:25 – 21:04
Aber auf die Idee zu kommen, dass man mit den Kindern auch sprechen müsste. Sowohl mein Bruder, der ja wirklich stark gefährdet war, der nicht nur eine genetische Disposition hat, wie ich ja auch, sondern auch noch dann überhaupt kein Urvertrauen, keine Bindung, das führt ja auch dazu, der eine Mutter hatte, die nach der Geburt erst mal zweieinhalb Monate weg war, dass sich da irgendjemand mal denkt, das könnte Auswirkungen haben. Die Pädagogin, die Lehrerin, haben sich alle dann irgendwann, sobald man merkte, das Problem lässt sich jetzt nicht schnell lösen, das ist nämlich auch Teil dieser Familienkultur, haben dann sich dezent zurückgezogen nach de, ist ja der Ehemann da.
Wiebke Schubert
21:04 – 21:23
Ich meine, bei so hoch belasteten, stark problembehafteten Familien, das ist ja auch eine Form von Eigenschutz. Dass man dann wenig Kontakt hat, die alle im Alter waren, wo sie Kinder hatten, wo sie teilweise auch gearbeitet haben. Einfach in dieser Lebensphase waren, da hat sich dann de facto keiner gekümmert. Ich finde auch, dass sich da in irgendeiner Form eine staatliche Stelle kümmern muss.
Wiebke Schubert
21:23 – 21:26
Zumindest wie diese Familienhebammen, die ab und zu mal nachgucken, läuft es denn noch.
Julia
21:27 – 21:52
Ja, also da bin ich ganz bei dir, weil da, um das Generationengespräch so ein bisschen zu eröffnen, kann ich ja mal so ein bisschen erzählen. Meine Erfahrungen im Bereich Psychiatrie sind jetzt auch schon fast 20 Jahre her. Also es hat angefangen irgendwann in den 2000ern und bis in die 2010er so ein bisschen reingezogen. Und muss sagen, also das, was du eben gesagt hast, mit mir hat keiner gesprochen, das kann ich unterschreiben.
Julia
21:52 – 21:59
Also das war bei mir auch schon gar nicht anders. Dass ich noch weiß, ich stand auf einer geschlossenen Station.
Wiebke Schubert
22:00 – 22:00
In der geschlossenen Station?
Julia
22:00 – 22:08
In der geschlossenen Station, war als besuchendes Kind ja da. Für mein erkranktes Elternteil. Und es war völlig überfüllt.
Julia
22:08 – 22:18
Die Leute haben zum Teil auf dem Gang geschlafen, weil es so voll war. Ging halt nicht anders. War schon nicht schön. Und dann hab ich irgendwie nur so …
Julia
22:19 – 22:44
Also stand ich da und irgendwie da flitzten Ärzte vorbei und irgendwie andere Patienten und manche haben uns irgendwie angequatscht und manche nicht irgendwie, also das war so mein erstes Erleben. Und das war schon ziemlich wild einfach, also anders kann ich es nicht sagen und ich weiß auch noch, dass ich danach erstmal nicht mehr allzu viel Lust hatte, da zu Besuch zu bekommen. weil ich überhaupt nicht wusste, was ich da soll. Es gab ja keine Anbindung.
Julia
22:44 – 23:05
Es gab niemanden, der mir erklärt hat, was da jetzt passiert, welche Schritte als nächstes kommen, was ich vielleicht machen kann oder eben auch besser nicht oder wie auch immer. Es gab keinerlei Anbindung von der Seite. Das mussten wir halt alles innerfamiliär versuchen zu klären. Also irgendwie darüber zu sprechen und zu gucken, was brauchen wir alle, wohin geht es hier gerade.
Julia
23:05 – 23:13
Aber Hilfe von außen, von Fachpersonal, die uns da hätten sicherlich besser beraten können, die habe ich da nicht bekommen. Also kann ich nicht behaupten.
Nele
23:14 – 23:30
Also das erweckt für mich jetzt ja schon den Anschein, dass sich, obwohl da jetzt auch Jahrzehnte dazwischen liegen bei euch beiden jeweils, eigentlich in Bezug auf Unterstützung durch Fachpersonal in den Kliniken an diesen Orten nicht wirklich viel getan hat für die Angehörigen auf weiter Flur.
Julia
23:30 – 24:02
Ich glaube heute sieht es nochmal anders aus, was du eben gesagt hast, diese Familienhebammen und so. Also gab es sicherlich in meiner Zeit da auch schon, aber da war ich dann vielleicht auch schon zu alt, als dass sich eine solche Familienhebamme um mich gekümmert hätte oder so. Aber was ich auf jeden Fall immer wieder ankreide, ist halt, warum gibt es nicht wenigstens mal eine Sozialarbeiterin, Sozialarbeiter, die sich zumindest mal ein Stündchen Zeit nimmt und sich da hinsetzt und sagt, so, sie sind also Kinder von einem psychisch erkrankten Menschen oder Geschwisterkinder oder wie auch immer, irgendwie.
Julia
24:02 – 24:11
Das und das bedeutet diese Erkrankung, das und das passiert hier gerade, dass man eine Einführung ins psychiatrische System bekommt.
Wiebke Schubert
24:11 – 24:28
Heutzutage ist es schon besser, finde ich. Es gibt Leuchtturmprojekte wie Kipkel und andere, wo versucht wird, direkt auf psychiatrischen Stationen mit den Eltern zu reden. Weil die auch die Einwilligung geben müssen, damit mit den Kindern gesprochen wird.
Wiebke Schubert
24:29 – 24:44
Und dann einfach ein paar Wege und Hilfen aufzuzeigen oder einfach Stellen, an die man sich wenden kann, wenn es denn Probleme gibt. Oder dass die betroffenen erkrankten Menschen auch in ihrer Elternrolle bleiben können. Das war ja auch ganz wichtig, weil oft kehrt sich die Rolle ja um.
Wiebke Schubert
24:46 – 24:57
Das heißt, die Kinder übernehmen Aufgaben der Eltern, spielen praktisch in meinem Fall die Mutter der Mutter. Das kann es nicht sein, das überfordert Kinder auch. Und dass da eben mehr drauf geachtet wird. Das ist im Kommen.
Wiebke Schubert
24:57 – 25:00
Es kann auch abgerechnet werden, soweit ich das jetzt weiß, mit Fachleistungsstunden und ähnlichem.
Wiebke Schubert
25:00 – 25:21
Aber es sind immer noch nicht flächendeckende oder jedes Kind erreichende Möglichkeiten, die gegeben werden. Sondern es sind immer an bestimmten Stellen, es hängt an bestimmten Personen, dass das passiert. Wünschenswert wäre eigentlich aber, dass alle Kinder diese Hilfen bekommen.
Wiebke Schubert
25:21 – 25:37
Was passiert denn, wenn ein Kind schon eine genetische Disposition hat? Wie mein Bruder. Und dann noch in dieser Umgebung und in diesen besonderen psychischen Umständen aufwachsen muss. Also wenn man es ganz, ganz, ganz böse formuliert, züchtet man doch den Nachwuchs der Psychiatrieerkrankten.
Wiebke Schubert
25:37 – 25:52
Das ist keine Form von Prävention. Prävention wäre was anderes. Also es ist böse formuliert jetzt nicht, aber eigentlich ist doch diese Generation, die man noch schützen kann, die man vielleicht stärker machen kann, die wird immer noch nicht genug beachtet. Ich würde es eher so ausdrücken.
Wiebke Schubert
25:52 – 25:54
Also es ist besser geworden, finde ich schon.
Nele
25:54 – 26:04
Was wären denn so, wenn wir jetzt gerade auch bei Prävention sind, vielleicht so konkrete Gedanken, die dir da an den Kopf kommen, wenn du an Prävention denkst? Wunschvorstellungen?
Wiebke Schubert
26:04 – 26:19
Oh, ich habe lange Listen. Also das erste ist natürlich, dass man den Kindern möglichst altersgerecht erstmal erklärt, was denn da passiert. Also nicht, dass sie Schuldgefühle bekommen. Kinder neigen ja dazu, sich Schuldgefühle auch so ein bisschen anzuziehen, weil ich mich so und so verhalten habe, ist meine Mutter krank oder ähnliches.
Wiebke Schubert
26:19 – 26:39
Dass das erstmal erklärt wird, dass das eine Erkrankung tatsächlich ist. Dass die, soweit wie das Kind fragt, auch erklärt wird. Dass man weiß, man kann es erstmal benennen, dass man ein Wort dafür hat, für dieses Verhalten. Und auch weiß, dass das nicht unbedingt das ist, was man von Eltern erwarten muss.
Wiebke Schubert
26:39 – 26:56
Also in der Form von Aufklärung, dass mit den Kindern überhaupt erstmal irgendwie gesprochen wird. Ist natürlich stark altersabhängig, abhängig von der Persönlichkeit des Kindes und so weiter. Aber es muss, das ist meine zweite wichtigste Forderung, Personen geben, die Augen auf diese Kinder haben. Gerade bei Alleinerziehenden zum Beispiel:
Wiebke Schubert
26:56 – 27:09
Wenn die Mütter mit den Kindern alleine sind, dass eben irgendjemand in die Familie kommt und da korrigiert. Das kann man nicht nur Schulen oder Kindergärten aufbürden. Da muss einfach nochmal jemand extra gucken. Ich war ein Kind, das funktioniert hat.
Wiebke Schubert
27:09 – 27:23
Ich habe keine Probleme gemacht. Und wenn sie dann nicht auffällig werden, bekommen sie gar keine Hilfe. Manche Kinder, die dann auffällig reagieren, haben eigentlich das richtig gemacht und das Glück, dass sie eventuell Hilfen bekommen. Nicht immer, aber eventuell.
Wiebke Schubert
27:23 – 27:25
Und das wären so die zwei wichtigsten Punkte aus meiner Sicht.
Julia
27:26 – 27:49
Da bin ich ganz bei dir. Das ist genau mein Erleben und das ist auch das, was ich immer wieder sage, dass ich finde, es muss eigentlich eben an den Kliniken schon anfangen, dass in dem Moment, wo ein Elternteil in der Klinik landet, gesagt wird, okay, die haben ja Kinder. Da müssen wir mal hingucken. Und dann zu gucken, welche Maßnahmen werden darauf folgen oder der Familie die Option zu nennen.
Julia
27:49 – 28:09
Es gibt diese und jene Möglichkeiten, die können Sie in Anspruch nehmen. Weil ich denke auch ganz oft, also ich habe dann mein gesundes Elternteil gefragt und gefragt, ob da jemand mal in Kontakt getreten ist und gesagt hat, da sind ja Kinder, wie können wir sie unterstützen oder so. Da kam nichts. Auch da wurde mir versichert, nie was von gehört.
Julia
28:09 – 28:37
Das musste alles in Eigeninitiative passieren. Und wie du sagst, wenn es dann auch noch ein alleinerziehendes Elternteil ist oder vielleicht auch zwei erkrankte Elternteile oder sonst irgendwelche Verhältnisse, die das erschweren oder bildungsferne Familien oder so. Familien, wo Selbsthilfe verpönt ist, was auch immer, dann wird das ja noch mal viel, viel schwieriger. Denn das steigert ja, wie du sagst, das Potenzial, dass diese Kinder in irgendeiner Form Schaden davon tragen, finde ich durchaus auf jeden Fall.
Julia
28:37 – 29:08
Dass ich zum Beispiel die andere Verbesserung, die ich dann erlebt habe im Vergleich, war dann Jahre später in einer anderen Klinik, wo das Klinikkonzept eher wie so eine WG gelebt wurde. Also man hat halt versucht, die dadurch eben natürlich auch besser zu rehabilitieren, dass die immer noch Eigenverantwortung tragen. Und da wurde auch dann mehr auf die Angehörigen eingegangen. Da gab es richtig so Führungen, wo dann gesagt wurde, hier kochen wir, hier machen wir so diese Sachen, das sind die Therapiemaßnahmen.
Julia
29:08 – 29:24
Das war auch noch immer ziemlich oberflächig und es hat eben keine Konsequenz gezogen. Also es gab noch immer nicht dieses Gespräch, was ich mir zum Beispiel gerne genau wie du gewünscht hätte oder so. Es war aber schon mal ein Ansatz, dass ich zumindest, vor dieser Klinik hatte ich keine Angst. Da habe ich mich wohl gefühlt.
Julia
29:24 – 29:27
Da bin ich gerne mal hin. Da waren auch die Wände irgendwie bunter.
Julia
29:27 – 29:41
Das sah nicht so nach Krankenhaus aus. Also allein diese Kleinigkeiten quasi, die haben das schon sehr verändert. Und wie gesagt, auch da gab es kein Gespräch, aber es war immerhin so, dass ich da überhaupt keine Sorge hatte oder so. Ich war eigentlich ganz gern da zu Besuch.
Julia
29:41 – 30:08
Ich fand die anderen Mitpatienten auch irgendwie so ganz nett, irgendwie wie die da halt so gekocht haben und gemalt und keine Ahnung. Also das hat mir schon wesentlich besser gefallen und dass ich denke, na auch sowas, also allein so einer Familie auch mal so eine Art Klinikführung zu geben oder so. Was machen wir hier, in welchen Räumlichkeiten, was passiert hier eigentlich mit der Person, die ja zum Teil auch sehr lange da ist. Also manche sind eben nur ein paar Wochen da, andere bleiben ja bis zu einem halben Jahr oder so.
Julia
30:09 – 30:35
Da will ich ja vielleicht auch als Kind wissen, wo ist da meine Mama, mein Papa untergebracht? Was passiert da eigentlich den ganzen Tag mit denen? Und wenn die Eltern selber im ersten Moment zu schwer psychisch erkrankt sind und das vielleicht gar nicht selber erklären können aus irgendwelchen Gründen, weil sie erstmal vielleicht auch nicht dazu imstande sind, wäre es ja schon schön, wenn es da einfach auch jemanden gibt, der das so ranführt, dass man auch so dieser Stigmatisierung, Psychiatrie so ein bisschen entgegenwirken kann dadurch.
Wiebke Schubert
30:36 – 30:48
Also das finde ich sehr, sehr wichtig, weil auch Kinder haben ja Fantasien. Und wenn ich etwas nicht sehen kann oder nicht sehen darf, dann stelle ich mir alles Mögliche vor, was da passiert, auch mit meinem Elternteil passiert, das ich ja immer noch liebe.
Wiebke Schubert
30:49 – 31:04
Ich habe ja so ein Mischgefühl. Einerseits bin ich wütend, andererseits liebe ich meine Mutter, sie ist einfach meine Mutter. Manchmal trauere ich auch schon, weil ich das nicht kriege, was ich haben will. Aber dass man einfach diese Ungewissenheiten nicht hat, das finde ich eine sehr gute Institution.
Wiebke Schubert
31:05 – 31:13
Idealerweise hat die Klinik auch noch ein kindergerechtes Spielzimmer oder ähnliches, wo einfach die Eltern oder Väter und Mütter ihre Kinder treffen können.
Wiebke Schubert
31:14 – 31:29
Das fände ich auch schon sehr schön. Da kann man viel machen, wenn man sich kümmert und das im Blick hat. Man darf ja auch nicht vergessen, Menschen, die dort arbeiten, haben ja oft irgendeinen Bezug zur Psychiatrie. Sei es, dass sie Kinder von psychisch erkrankten Menschen sind oder Geschwister.
Wiebke Schubert
31:29 – 31:35
Also das ist ja nicht so, dieses Orchideenfach Psychiatrie studiert man als Arzt oder Ärztin ja auch nicht ohne Grund.
Wiebke Schubert
31:36 – 31:48
Ich kann mir vorstellen, wenn die sich einfach mal in ihre eigene Angehörigenposition eventuell auch zurückversetzen würden, wäre es auch schön. Auch gerade, ich meine, um die möglichen Gefährdungen für ein Kind dann auch zu sehen.
Nele
31:49 – 32:10
Was ich mich dann aber auch frage ist, das ist dann natürlich so der erste Schritt, dass man einfach auch diese Zeit in der Klinik veranschaulicht, den Kindern, anderen Familienmitgliedern näherbringt. Aber was passiert danach, wenn die Erkrankten vielleicht auch irgendwann entlassen werden? Fügen die sich wieder ins Familienleben ein? Wie geht das auch weiter?
Nele
32:10 – 32:31
Das finde ich dann auch eine interessante Frage, weil dann liegt ja wahrscheinlich schon wieder mehr Verantwortung bei den Angehörigen. Ich stelle mir das jetzt gerade so vor, die haben ein bisschen Luft, können mal kurz durchatmen. Die erkrankte Person ist in der Klinik und wir sind jetzt hier für uns zu Hause. Ist bestimmt auch nicht einfach und ich vermisse das Eltern- oder Geschwisterteil.
Nele
32:31 – 32:46
Aber wie geht es dann eben weiter? Also auch dieser Übergang. Das könnt ihr mir wahrscheinlich sagen, weil ich habe jetzt keine Psychiatrie-Erfahrung durch Betroffene oder so. Gibt es da auch eine Art von Vorbereitung und Wiedereinführung in den Alltag?
Julia
32:46 – 32:50
Also ich muss sagen, Wiebke, verbessere mich, aber bei mir gab es das auf jeden Fall nicht.
Wiebke Schubert
32:50 – 32:52
Bei mir gab es das sicher nicht.
Julia
32:52 – 33:16
Also ich wollte gerade sagen, in deiner Generation wahrscheinlich noch weniger. Also bei mir war es, wie du sagst, Nele, ich war oft erleichtert, wenn das Elternteil in der Klinik war, weil ich wusste, die Person ist da sicher und die wird behandelt. Und dann war aber auch klar, oh scheiße, an dem Tag, wo die Person rauskommt, da sieht es vielleicht wieder ganz anders aus. Also wie du sagst, bei mir war auch der Fall, die Einsicht fehlte zum großen Teil.
Julia
33:16 – 33:48
Und dann, also wusstest du ja eigentlich schon vorher, was da passiert. Also ich weiß, dass es Kliniken gibt, mittlerweile vor allem, in denen es tolle Reha-Maßnahmen gibt, wo es eine andere Anbindung gibt im Nachhinein. sozialpsychiatrische Zentren, da halte ich ganz viel von, wo Leute erstmal auch überhaupt wieder in den Alltag eingegliedert werden, wo die mit anderen gemeinsam sein können, ein Leben richtig wieder gestalten lernen sozusagen, sich auf Arbeitsmaßnahmen konzentrieren können und so weiter. Das gab es also bei mir in der Familie nicht.
Nele
33:48 – 34:18
Mir kommt da gerade noch so eine Frage, da könnt ihr gerne auch noch mal beide drauf Bezug nehmen. Ich könnte mir vorstellen, dass die Krankheitseinsicht wahrscheinlich auch dazu beiträgt, wie sich der Alltag danach gestaltet. Also wenn man da jetzt eine betroffene Person hat, die aus der Psychiatrie kommt und eigentlich wirklich nicht viel mitgenommen hat, es hat sich nicht viel verändert und die denkt sich auch, ja, es ist eigentlich gar nichts falsch mit mir, es ist alles wie immer, ich setze Medikamente ab und ihr seid irgendwie meine Feindbilder und ich bin doch nicht komisch.
Nele
34:18 – 34:27
Das erschwert es ja auch. Also diese Krankheitseinsicht, ja oder nein, die beeinflusst den Alltag ja wahrscheinlich auch enorm.
Wiebke Schubert
34:27 – 34:48
Ich muss ja dazusagen, meine Mutter ist ja nach diesem einzigen Klinikaufenthalt nie wieder in einer Klinik gewesen. Aber ich kann mich nicht dran erinnern, dass sie tatsächlich eine Krankheitseinsicht gehabt hätte, also dass sie das mal explizit gesagt hat. Sie ist allerdings mehr oder weniger regelmäßig zu ihrem Psychiater gegangen und hat sich diese Depotspritze abgeholt. Aus welchen Gründen weiß ich nicht unbedingt.
Julia
34:49 – 34:49
Das wäre ja spannend zu wissen.
Wiebke Schubert
34:49 – 35:04
Ob da viel Druck seitens meines Vaters da war, wer das noch mitkontrolliert hat, weiß ich nicht. Ich jedenfalls nicht, Gott sei Dank. Aber das Problem ist, wenn jemand keine Krankheitseinsicht hat, ist das Absetzen der Medikamente das Erste, was die meisten tun.
Wiebke Schubert
35:04 – 35:28
Es gibt eine sogenannte Drehtürpsychiatrie. Das heißt, Menschen kommen aus der Klinik, sind vielleicht ganz gut anbehandelt. Und das ganze Spielchen beginnt von vorne. Irgendwann kommt es zu Vorfällen, die dazu führen, dass jemand, weil er gewalttätig war, Sachen beschädigt hat oder sonst was passiert ist, im Maßregelvollzug deswegen landet.
Wiebke Schubert
35:28 – 35:36
Wir haben schon eine Rechtsprechung bzw. eine veränderte Gesetzgebung zum Thema. Die es deutlich erschwert, jemanden z.B. zwangszubehandeln.
Wiebke Schubert
35:39 – 35:46
Das hat aber Auswirkungen, die man jetzt eigentlich erst sieht. Jetzt kommt man darauf, dass Menschen dann auch eventuell ihre sozialen Bindungen verlieren.
Wiebke Schubert
35:48 – 36:09
Ich bin ja eigentlich hauptberuflich Rechtsanwältin und mache Familienrecht. Und ich kann sagen, dass ein Drittel der Entzüge des Sorgerechts auf der psychischen Erkrankung oder der Suchterkrankung des Elternteils beruhen. Wenn nicht sogar deutlich mehr. Und dann zum Beispiel, nehmen wir mal an, der Vater ist erkrankt, sich die Mütter trennen, um ihre Kinder zu schützen.
Wiebke Schubert
36:09 – 36:41
Damit der Vater die Wohnung verliert, womöglich auf der Straße landet, was auch immer. Also dadurch, dass da weniger in den Kliniken passiert, auch unter Umständen gar nichts, wenn jemand nicht will und nicht auffällig ist, Das ganze Spielchen aber zu Hause losgeht, weil die Familie in einen Wahn zum Beispiel eingebunden ist, dann werden die Menschen irgendwann aus Selbstschutz sagen, die Angehörigen, ich will jetzt keinen Kontakt mehr, ich trenne mich oder ich breche den Kontakt ab, was auch immer. Und da kann man jetzt dazu stehen, wie man möchte.
Wiebke Schubert
36:41 – 37:01
Ich glaube, das ist eine andere Diskussion. Aber wenn dann die Krankheitseinsicht fehlt, also gerade bei Psychosen, das ist ein anderes Spielchen als bei Depressionen oder bipolaren Erkrankungen, dann wird das richtig schwierig. Dann hat das auch soziale Folgen für den Betroffenen. Und da kann man ganz schnell abrutschen.
Julia
37:01 – 37:32
Und ich denke gerade auch, wenn ich an deine Generation dann denke, wo das Thema sowieso überhaupt nicht offen besprochen wurde und dann ist da im Fall deiner Mutter oder deines Bruders, als der auch sehr jung einfach erkrankt ist, dann ist er diese – in Anführungszeichen – komische Person. Man redet nicht drüber. Es gibt aber auch keine Maßnahmen, die in irgendeiner Form besser einzugliedern oder gemeinsam daran zu arbeiten, dass das besser funktionieren kann. Also das kann ja nur schief gehen, wenn wir mal ehrlich sind, irgendwie.
Julia
37:32 – 37:46
Also ich finde es erstaunlich, wenn Menschen es dann geschafft haben, also auch bei deiner Familie, wie ihr das zumindest irgendwie halbwegs aufrecht gehalten habt, weil da kann man ja auch nur froh sein quasi, dass nichts Schlimmeres passiert ist.
Wiebke Schubert
37:46 – 38:06
Also ich bin meinem Vater extrem dankbar, dass er die Familie nicht verlassen hat. Der hat ja selbst schon einen sehr anstrengenden Job gehabt, das war Unternehmensberatung 8 bis 8, internationale Gesetzgebung zu Steuern und Ähnlichem. Also das ist als Beruf schon anspruchsvoll. Dann eine starke Dauerbelastung durch eine dauererkrankte Ehefrau.
Wiebke Schubert
38:06 – 38:09
Dann kommt noch der Bruder dazu. Also ich weiß gar nicht, wie er es ausgehalten hat.
Nele
38:11 – 38:27
Nee, aber das ist ja genau die Frage. Das spielt ja bei Angehörigen auch einfach mit rein. Wie halten die das mit aus, wenn die wirklich dafür Sorge übernehmen, für sich selber, für den gesunden Teil der Familie, für den erkrankten Teil der Familie. Das ist eine enorme Belastung.
Wiebke Schubert
38:29 – 38:57
Es gibt ja jetzt tatsächlich auch eine Studie darüber, dass gerade in den ersten fünf Jahren nach der Erkrankung Angehörige auch psychosomatische Beschwerden entwickeln, Stresssymptome entwickeln. Ich kenne viele Angehörige, dazu gehöre ich auch, die zunehmend tatsächlich einfach Frustesser sind, weil man einfach sehr viel aushalten muss oder man geht. Also dazwischen ist eigentlich nichts. Und dann hängt es davon ab, wie stabil ist die oder der Angehörige.
Wiebke Schubert
38:57 – 39:05
Kann man das lange aushalten? Ist es gut, wenn ich das lange aushalte? Sollte ich nicht vielleicht lernen, mich abzugrenzen? Also das kann ich inzwischen deutlich besser.
Wiebke Schubert
39:05 – 39:10
Ich überprüfe erst mal, ob ich eine Anforderung, die an die an mich gestellt wird, erfüllen kann.
Wiebke Schubert
39:12 – 39:15
Auch wenn es ansonsten der betroffenen Person schlechter gehen würde.
Julia
39:16 – 39:20
Das finde ich aber einen guten Tipp, ehrlich gesagt, das ist echt was, da habe ich noch nie drüber nachgedacht.
Julia
39:21 – 39:27
Also in all den Jahren, wo ich sage, denk an dich selber und so weiter, das wirklich erstmal checken, kann ich die Anforderungen überhaupt erfüllen.
Wiebke Schubert
39:27 – 39:54
Und will ich das? Entschuldigung, wenn ich jetzt dazwischen quatsche, aber will ich das auch erfüllen? Also erstmal die sogenannte oder hochgehängte Selbstfürsorge auch bei den Angehörigen. Denn wenn ich an einer Depression erkranke, weil die ganze Situation mich überfordert, bringt das auch einem Betroffenen nichts. Oder wenn Menschen, also es gibt ja Menschen, die dann sich mit Drogen aus dieser Welt sozusagen, oder aus dieser Welt flüchten mit Drogen, sagen wir es mal anders.
Wiebke Schubert
39:56 – 39:57
Das kann es alles nicht sein.
Wiebke Schubert
39:59 – 40:13
Und man kann auch Angehörigen nur begrenzt etwas aufbürden. Also wenn man systemisch denkt. Die Angehörigen machen dann die Weiterversorgung sozusagen. Familien sind ein Mittel, psychisch kranke Menschen zu versorgen.
Wiebke Schubert
40:13 – 40:35
Und diese Angehörigen, die das machen, die werden immer weniger. Denn es ist ja auch nun so, dass früher hat, was weiß ich: Eine Frau hat fünf, sechs Kinder gehabt, ein Kind ist erkrankt, die anderen Kinder waren aus dem Haus, sie hatte genug Zeit, war nur Hausfrau. Heute arbeitet sie. Die Familie braucht zwei Gehälter, um in einer Großstadt zu leben.
Wiebke Schubert
40:35 – 40:54
Dann steht diese Frau als Versorgerin ihres erkrankten Kindes schon nicht mehr zur Verfügung. Dann wohnen Geschwister 700 Kilometer, jetzt nicht ohne Grund, weit weg, haben dort einen Job, die können sich hier nicht kümmern. Die ganzen Angehörigen, die früher da waren, viele Geschwister, Frauen, die nicht gearbeitet haben, die sind gar nicht mehr da. Und das merkt man langsam.
Wiebke Schubert
40:54 – 41:08
Im Moment versorgen noch viele ältere Frauen ihre kranken Kinder. Die müssen jetzt selber in ein Altersheim, machen das nicht mehr. Und wohin plötzlich? Da stehen 40, 50-Jährige, die keine eigene Wohnung halten können, die keinen Haushalt machen können.
Wiebke Schubert
41:10 – 41:20
Diese Frauen, die heutige Generation macht es nicht mehr. Ich bin berufstätig. Ich würde meinen Bruder auch gar nicht bei mir wohnen haben wollen. Davon ab, das ist eine sehr bewusste Entscheidung.
Wiebke Schubert
41:21 – 41:29
Wir stehen vor einer riesigen Versorgungslücke. Ich weiß gar nicht, wie man sich das so denkt in den nächsten 10, 20 Jahren. Ganz allgemein. Kann man auch.
Nele
41:31 – 41:57
Apropos Kontakt, weil wir das eben ja auch schon einmal kurz so ein bisschen angeschnitten hatten, Thema Grenzen auch, da gibt es ja auch verschiedenen Umgang mit. Bricht man den Kontakt vielleicht ab, reduziert man den, kann man sich schon mit der Person auch mal umgeben, man muss sie jetzt nicht unbedingt bei sich wohnen haben. Also da gibt es ja ganz verschiedene Arten und Weisen, wie man dann auch mit diesen Betroffenen in Kontakt steht oder eben auch nicht. Wie ist das bei dir, Wiebke?
Nele
41:57 – 42:01
Hast du Kontakt zu deinem Bruder? Seht ihr euch öfter?
Wiebke Schubert
42:01 – 42:15
Also inzwischen schon. Ich hab…, lange Zeit, hat sich ja mein Vater gekümmert. Mein Vater hat dann einen Schlaganfall bekommen mit halbseitiger Lähmung. Ich als arbeitende Tochter – Anführungszeichen – habe dann dafür noch sorgen können, dass er Gott sei Dank in ein Altenheim gekommen ist.
Wiebke Schubert
42:15 – 42:38
Aber mein Bruder stand plötzlich ohne jeden weiteren Kontakt ohne sonstige Hilfe von Seiten der Familie da. Ich musste praktisch von einem Tag auf den anderen mich plötzlich um zwei Menschen mehr kümmern, nämlich meinen Vater und meinem Bruder und war gezwungen sozusagen in Kontakt zu treten. Das hatte ich vorher nämlich nicht gemacht. Ich habe das meinem Vater überlassen, weil ich brauchte wirklich Abstand.
Wiebke Schubert
42:38 – 43:00
Wenn man sich vorstellt, Mutter erkrankt, Bruder erkrankt, Irgendwann hat man genug. Ich weiß, dass manche Geschwister sind dann für ein Studiensemester im Ausland oder leben erstmal an einem ganz anderen Ort, um einfach mal zu sich selbst zu kommen, zu sich selbst zu finden. Und ähnlich war es bei mir auch. Ich musste jetzt dafür nicht unbedingt umziehen, aber ich wollte mit meinem Bruder erstmal einfach nichts mehr zu tun haben.
Wiebke Schubert
43:01 – 43:13
Und irgendwann musste ich und hab dann plötzlich einen anderen Bruder erlebt. Das war ja auch eine Neuentdeckung, kann man so sagen. Weil auch mein Bruder ist natürlich ein bisschen ruhiger geworden. Also er kennt seine Erkrankung.
Wiebke Schubert
43:13 – 43:46
Er merkt auch, wenn er sogenannte Hallus, wie er es nennt, hat, also Halluzinationen, weil er Situationen anders einschätzt als ich zum Beispiel. Und ich kann mit meinem Bruder jetzt auch verhandeln, also ich habe auch das Selbstbewusstsein zu sagen, so, ich möchte das und ich möchte das nicht. Also zum Beispiel, wenn ich mit meinem Bruder im Auto unterwegs bin, dann machen wir es tatsächlich so, mein Bruder darf im Auto nicht rauchen, weil das hasse ich, aber er hasst es, wenn ich zu schnell Auto fahre. Das heißt, ich darf dann maximal so 120, 130 fahren, er raucht dafür nicht im Auto, das haben wir ausgehandelt.
Wiebke Schubert
43:47 – 44:19
Und wir treffen uns so ungefähr einmal die Woche, weil ich tatsächlich auch sozusagen – Anführungszeichen jetzt bitte – gezwungen bin, auch mich um meinen Bruder zu kümmern. Meine Eltern haben nämlich eine juristische Konstruktion gewählt, ein sogenanntes Behindertentestament. Und ich bin die Testamentsvollstreckerin, dass das dazu führt, dass ich meinem Bruder zum Beispiel Zigaretten kaufe, Kaffee kaufe. Zeitschriften kaufe, alles, was er so braucht, weil ich das in dieser Funktion machen muss, damit ich dann hinterher meinen Bruder beerben kann.
Wiebke Schubert
44:19 – 44:42
Das ist zwar jetzt die ganz kurze Form einer relativ komplizierten juristischen Konstruktion, aber ich war dadurch gezwungen, mich wieder mit meinem Bruder zu befassen. Und natürlich aus einer gewissen Verantwortlichkeit oder familiären Verpflichtung nach dem Schlaganfall meines Vaters. Und wir konnten uns aber dadurch wieder neu erleben und hatten auch einfach genug Ruhe voreinander gehabt. Also ich glaube von beiden Seiten.
Wiebke Schubert
44:42 – 45:07
Aber mein Bruder erlebt mich jetzt wieder als das, was ich vorher war, nämlich die große Schwester. Das ist ja eigentlich ganz schön. Er ist tatsächlich von der Erkrankung her, also er ist ja eingestellt, er lebt in einem offenen Wohnheim, jetzt sagt man offene stationäre Wohnform, das ist das neue Wording, glaube ich. Also ich weiß, da ist er gut untergebracht, das ist klein, das sind gerade mal zwölf Menschen, die dort leben, das funktioniert alles.
Wiebke Schubert
45:08 – 45:24
Also er ist gut versorgt, da muss ich mich nicht kümmern und das macht es mir auch freier. Also ich habe nicht diese Last der Verantwortung wieder, die ich als Kind oder Jugendliche hatte und kann auch befreiter agieren. Und ich bin inzwischen auch, war ich ja auch aktiv in der Selbsthilfe.
Wiebke Schubert
45:25 – 45:46
Ich habe so Anfang der 2000er Jahre angefangen, mich erst mal um mich selbst als Kind einer psychisch kranken Mutter zu kümmern und bin dann praktisch reingerutscht in den Landesverband der Angehörigen psychisch Erkrankter hier in Nordrhein-Westfalen oder in den Bundesverband auch irgendwann und habe natürlich auch viel gelernt in dem Zusammenhang. Wie gehe ich eigentlich mit jemanden um? Was ist, wenn er nicht duschen will, wenn er nicht rauchen soll im Auto? Wie mache ich das?
Wiebke Schubert
45:46 – 45:54
Wie klar muss ich sein, um sowas anzusprechen? Welche Haltung muss ich da haben? Oder nicht muss, das ist immer ein falsches Wort. Oder welche Haltung kann ich haben?
Wiebke Schubert
45:55 – 46:13
Solche Sachen, also wie gehe ich einfach damit um, das habe ich ja tatsächlich gelernt. Da hat mir in der Selbsthilfe tatsächlich irgendwann mal jemand beigebracht, oder ich habe mehrere, ich habe mir das absehen können teilweise auch, wie man das eigentlich auch anders machen kann. Diese Informationen hatte ich ganz einfach nicht vorher.
Julia
46:13 – 46:37
Aber auch da habe ich das Gefühl, dass das auch wahrscheinlich die letzten Jahre einfach deutlich besser geworden ist. Also weil früher, wie du eben gesagt hast, da waren es vor allem Frauen, die sich dann dafür quasi aufgegeben haben. Also ich weiß auch meine Oma, die war auch so ein Fall, die hätte nie was gemacht, was meinem Elternteil in irgendeiner Form Schwierigkeiten macht. Was dazu geführt hat, dass natürlich diese Person auch sehr viel mit ihr machen konnte, an der einen oder anderen Stelle.
Julia
46:37 – 47:01
Also gerade was so finanzielle Sachen anging und so war da durchaus mal ein Thema. Und dass ich auch glaube, auch sowas hat sich ja zum Glück gewandelt, dass man sagt, ne man darf sich auch um sich selbst kümmern. Das ist ein wichtiger Kern. Wir können alle nur das Ganze gut überstehen auf Dauer, wenn wir uns auch umeinander kümmern und auch um sich selbst vor allem kümmern erstmal und da Grenzen setzen und so weiter.
Julia
47:02 – 47:37
Es ist ja bei Nele und mir in der Generation zum Glück zum Beispiel ein sehr wichtiges Thema, was ich sehr gut finde, dass ja grundsätzlich viel darüber gesprochen wird, Grenzen zu setzen, was will ich überhaupt, was geht wirklich mit meinen Wünschen und Bedürfnissen überhaupt einher und das, glaube ich, ist was, das hat sicherlich die Generation vor allem deiner Eltern noch nicht wirklich gelernt. Das heißt ja auch deine Generation musste sich da ja eher so selbst raus lernen, sage ich mal. Also es ist ja genau mit dieser Psychiatrie-Enquete quasi ging das ja auch einher, dass gerade auch Eltern, Geschwister, wie auch immer, so ein Selbstbewusstsein dafür bekommen haben.
Julia
47:37 – 47:48
So, nee, also meine Meinung ist ja auch wichtig und meine Bedürfnisse und wie funktioniert das hier eigentlich überhaupt alles. Auch im Hinblick darauf, dass wir gut funktionieren müssen, damit es machbar wird.
Wiebke Schubert
47:50 – 48:09
Wobei man dazu sagen muss, dass die Angehörigenbewegung sich erst zehn Jahre ungefähr nach der Psychiatrie-Enquete entwickelt hat. Das war so Mitte der 80er hat sich, glaube ich, der Bundesverband gegründet, hier der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen. Und wir waren 1989 dran als Landesverband, da haben sich tatsächlich oft die Frauen, und zwar die Mütter, gewehrt.
Wiebke Schubert
48:09 – 48:29
Sie wurden als sogenannte schizophrigene Mütter bezeichnet. Also Mütter, die die Erkrankung, also psychotische Erkrankung vor allem ihres Kindes verursacht hätten, nach der damaligen Lehrmeinung. Und das ging teilweise so weit, dass Mütter sich umgebracht haben. Und dann haben die Frauen angefangen, also tatsächlich die Frauen, sich zu wehren.
Wiebke Schubert
48:29 – 48:45
Es gab eigentlich nur Mitgründerinnen eines Bundesverbandes ganz wenige Männer. Ich muss leider sagen, dass das Thema in anderer Form wieder hochkommt. Viele Betroffene erzählen von Traumata, die dazu geführt hätten, dass sie erkrankt sind. Und verursacht meistens durch Familienangehörige.
Wiebke Schubert
48:47 – 49:00
Das ist wieder so ein Zuschieben von Schuld an die Angehörigen. Das finde ich sehr, sehr schwierig. Ich kenne das auch von Seiten meines Bruders, der meinem Vater entsprechende Vorwürfe gemacht hat. Nur ich bin ja die Schwester meines Bruders.
Wiebke Schubert
49:00 – 49:10
Ich bin mit ihm aufgewachsen. Ich weiß, dass das alles nicht stimmt. Was jetzt, wie geht man damit um? Also wir sind eigentlich in einer Situation wie Mitte der, Ende der 80er Jahre plötzlich wieder.
Wiebke Schubert
49:10 – 49:36
Und da merkt man einfach, wie dringend es immer noch und wie wichtig es ist, dass es eine Familienselbsthilfe gibt. Um auch diesen Tendenzen, die ja die Angehörigen auch massiv stigmatisieren, jetzt in umgekehrter Richtung, wieder zu schützen und sie auch… Ja, ich hätte fast gesagt, es ist jetzt berufsbedingt, zu verteidigen. Also einfach klarzumachen, pass auf, ihr überschreitet eine Grenze, das geht nicht. Man kann nicht mit diesen Vorstellungen arbeiten.
Julia
49:36 – 50:03
Vor allem glaube ich auch manchmal, dass dieses Schuldzuweisen ist ja auch so die Frage, wie viel bringt das? Also am Ende hat man dann die schuldige Person gefunden, aber wenn ich jetzt psychisch erkrankt bin, hilft mir das ja in dem Moment selber. Also vielleicht kann ich dann einen Teil der Verantwortung abgeben, ja, aber ich muss ja trotzdem Verantwortung dafür tragen, wie es mir in Zukunft geht. Das kann ja auch diese angehörige Person, selbst wenn sie einen Teil Schuld trägt, nicht komplett übernehmen.
Julia
50:03 – 50:31
Und gerade wenn es jetzt der Fall wäre, ich hätte wirklich aufgrund von schlimmen Kindheitstraumata zum Beispiel durch Missbrauch oder was auch immer auch immer innerhalb der Familie sowas davongetragen, was ja sein kann und dann gibt es durchaus ja auch Schuldige. Ist ja auch so die Frage, sind dann ausgerechnet diese Leute auch dazu bereit, mit mir daran zu arbeiten? Und wahrscheinlich auch da wieder, leider nicht immer. Also ich verstehe total was du meinst und ich glaube das ist ein ganz verfahrenes Konstrukt.
Julia
50:31 – 50:54
Und es ist natürlich wichtig, sich mit dem System auseinanderzusetzen, wie bin ich groß geworden, was hat mir gut getan, was nicht. Aber ich glaube, den Weg, die psychische Erkrankung quasi für sich unter Kontrolle zu kriegen, sage ich mal. Heilung finde ich ein schwieriges Wort, was das angeht. Aber für sich damit zu leben, liegt ja auch zum großen Teil dann doch einfach auch an einem selber.
Julia
50:54 – 51:02
Die Angehörigen können unterstützen, die Angehörigen können nach sich gucken und so weiter. Aber irgendwie müssen ja alle eine gewisse Verantwortung quasi mittragen, sonst, glaube ich, wird das schwer.
Wiebke Schubert
51:02 – 51:18
Es ist natürlich auch schwierig, eine genetische Disposition, damit umzugehen, gerade als Betroffener, weil das geht ja nicht aus mir heraus. Weil ein Kindheitstrauma kann ich bearbeiten, dann bin ich vielleicht meine Erkrankung los. Also der Weg wird nicht funktionieren, muss man auch mal hart sagen.
Wiebke Schubert
51:18 – 51:37
Den anzuerkennen, dass ich, also selbst ich weiß ja, ich habe bei einem erkrankten Elternteil und einem erkrankten Bruder selbst ein hohes Risiko gehabt, oder vielleicht habe ich es noch, zu erkranken. Und das ist etwas, was ich aus mir nicht herausbekommen werde. Damit muss ich immer umgehen.
Wiebke Schubert
51:37 – 51:43
Also ich muss für mich sorgen, ich muss als Angehörige gucken, dass ich nicht so hohen Stress entwickle, dass vielleicht noch was passiert.
Wiebke Schubert
51:43 – 52:06
In meinem Alter jetzt mit 57 eher ungewöhnlich, aber das kann ja sein. Und schon deswegen, aufgrund dieser genetischen Disposition, würde ich als Angehörige immer gucken, dass ich möglichst ein bestimmtes Stresslevel nicht überschreite. Das ist ein klassischer Mitauslöser neben den anderen Ursachen für eine Erkrankung. Von daher ist Selbstversorge das A und O.
Wiebke Schubert
52:06 – 52:08
Und Abgrenzung und so weiter.
Nele
52:10 – 52:47
Wenn man sich jetzt das alles mal so anschaut und auch die Erfahrungen, die du jetzt wirklich über die Jahrzehnte gesammelt hast. Es hat sich ein bisschen was geändert vielleicht von 1970 bis heute, was Psychiatrie angeht, Behandlungsmöglichkeiten, was auch den Umgang mit Angehörigen und Betroffenen angeht. Aber was hättest du dir konkret damals gewünscht? Was hättest du ganz konkret gebraucht, gerade als junge Frau, die noch zu Hause lebt, die vielleicht auch noch finanziell abhängig ist, die noch nicht ihr eigenes Ding macht. Also was hätte es konkret gebraucht für dich als Unterstützung?
Wiebke Schubert
52:47 – 53:14
Damals immer noch, ich glaube, ich wiederhole mich, aber erstmal, dass man wirklich mit mir redet und als Jugendliche war ich jetzt sicher auch intellektuell oder reif genug, mir erstmal zu erklären, was hat meine Mutter eigentlich genau. Damals gab es ja noch kein Internet, heutzutage würde ich einfach googeln. Aber einfach diese Aufklärung, das ist das Wichtigste, dass mit mir gesprochen wird, dass ich einfach gesehen werde. Also ich hatte das Gefühl und ich habe es dann auch selber so gehalten, dass ich immer unter dem Radar weggetaucht bin, nie auffällig geworden bin.
Wiebke Schubert
53:14 – 53:25
Auch in der Schule, ich war ganz schüchtern. Das können sich manche Menschen, die sie mich heute kennen, gar nicht mehr vorstellen. Aber wenn ich mal Pieps gesagt habe, war das gut. Also ich wollte bloß nicht in irgendeiner Form auffallen.
Wiebke Schubert
53:25 – 53:40
Und ich habe mich dann natürlich auch nicht ausprobiert. Ich hatte ja auch zu viel Verantwortung, das hätte ich auch gern gehabt. Also diese Jugendphase, wo man eigentlich mal sagt, ich mache das, und ich trinke mal einen über den Durst, habe ich nie gemacht, mache ich heute noch nicht. Einfach, weil ich Angst habe, auffällig zu werden.
Wiebke Schubert
53:41 – 53:58
In dem Sinne, dass ich mich jetzt durchaus exponiere, ich mache das ja hier unter vollem Namen und man kann mein Bild sehen und alles, es ist in Ordnung. Das war aber ein Weg, den ich gehen musste, den ich lernen musste. Und ich finde, es darf sich keiner verstecken oder als Angehöriger schon gar nicht. Man muss frei darüber reden können.
Wiebke Schubert
53:58 – 54:19
Man kann ja, wenn man mich ein bisschen erforscht sozusagen, über Google geht es heutzutage, alles auch eigentlich den Namen, zumindest den Nachnamen meines Bruders herausfinden. Aber ich darf als Angehörige darüber frei reden. Das ist auch etwas, was ich damals gern gemacht hätte. Dass ich einfach mal alles ausquatschen hätte können oder Probleme benennen können.
Wiebke Schubert
54:19 – 54:40
Dass ich überhaupt als Person wahrgenommen werde sozusagen. Das würde ich mir heute für mein jugendliches Ich wünschen und einfach, dass ich diese Unbeschwertheit zurückbekommen habe. Ich war immer pflichtbewusst und erwachsen, viel zu erwachsen. Und ich würde dieses ausleben können, das mache ich vielleicht jetzt.
Wiebke Schubert
54:40 – 54:44
Das ist ja auch ein Geschenk ans Alter. Also wenn man es bis hierhin geschafft hat, dann kann man das auch eigentlich jetzt machen, finde ich.
Julia
54:45 – 54:56
Irgendwann macht man das. Also das würde ich dir auf jeden Fall wünschen. Ich würde langsam zum Ende kommen, weil wir jetzt auch schon eine ganze Weile uns hier unterhalten, was auch sehr schön ist.
Julia
54:56 – 55:14
Aber deswegen hatte ich noch den letzten Punkt ja mit dir vorher auch besprochen und zwar, Wiebke, du bist aktiv in sogenannten Besuchskommissionen. Kannst du da noch einmal erklären, was das überhaupt ist, was ihr macht und inwiefern das auch gerade Angehörigen helfen kann?
Wiebke Schubert
55:15 – 55:37
Ja, ich habe ja ganz am Anfang mich so ein bisschen über die Zustände in den Kliniken beschwert. Die Besuchskommissionen begehen Psychiatrien und Maßregelvollzüge, und zwar Psychiatrien, in denen auch zwangsbehandelt werden kann und die pflichtversorgend sind. Und wir gucken dort, ob die Rechte der Patienten eingehalten werden. In der Regel wird das gemacht von den Bezirksregierungen, die eine Kommission bilden.
Wiebke Schubert
55:37 – 56:15
Da ist meistens ein Medizinalbeamter der Bezirksregierung dabei, ein Jurist, das kann ein Jurist der Bezirksregierung oder ein Richter der Betreuungsrechtmacht sein. Dann ein psychiatrischer Gutachter oder Gutachterin, also auch immer in der weiblichen Form, ein Angehöriger und ein Betroffener. Und Menschen, die Mitglieder bei uns im Landesverband sind, die kann ich für solche Besuchskommissionen beim Ministerium für Arbeit und Gesundheit und Soziales in diesem Fall im Moment anmelden und die dürfen dann mitgehen und im Rahmen dieser fünfköpfigen Gruppe, idealerweise, einfach mitschauen, wie sind die Zustände in den Kliniken.
Wiebke Schubert
56:16 – 56:30
Weil auch manchmal da ja ein sehr diffuses Bild herrscht. Meistens kennen die Angehörigen nur eine Klinik. Man sieht gute Ideen, die eine Klinik hat, die man vielleicht in die nächste Klinik weiter betreiben kann, hätte ich jetzt fast gesagt. Also weiter tragen kann.
Wiebke Schubert
56:36 – 56:50
Ich mache das seit 2005. Ich habe sozusagen ein 20-jähriges Jubiläum. Ich sehe tatsächlich Verbesserungen. Ich sehe, dass das, was in den Kliniken früher gemacht wurde, es hat neue Gebäude gegeben.
Wiebke Schubert
56:50 – 57:04
Es hat eine andere Art von Haltung gegeben. Es gibt eine viel zugewandtere Art von Arbeit. Man erlebt Personal, das offen ist, das auf Augenhöhe mit den Menschen spricht. Es gibt natürlich immer Ausreißer, aber ich finde schon, dass das Niveau in den Kliniken sich in jeder Hinsicht deutlich gebessert hat.
Wiebke Schubert
57:04 – 57:22
Manche sind schicker als Hotels. Da ist mir eine Klinik direkt vor Augen. Es ist ja auch eine Form von Wertschätzung gegenüber psychisch Kranken, dass da nicht immer die abgeranzten Betten und die abgeranzten Sofas und so weiter stehen, sondern einfach auch mal die Umgebung nett ist, auch für die Mitarbeiter.
Wiebke Schubert
57:22 – 57:50
Dass da einfach ganz viel gemacht wird, was man ja gar nicht so denkt, weil man in diesen Klinikbereich ja nur hineinschaut, wenn der Angehörige meistens zwangsweise dort ist. Und ich finde schon, dass man da einfach ganz konkret etwas verbessern kann. Und ich werbe darum, dass Menschen sich bei uns melden. Wir müssen zwar Mitglied im Landesverband werden, kostet nur 35 Euro im Jahr, wenn ich das mal sagen darf, aber auch da mitgehen können, wenn man sich dann engagieren will, ist es ein bisschen anstrengend, weil man schon gut einen halben Tag mindestens unterwegs ist.
Wiebke Schubert
57:51 – 58:09
Das ist auch je nach Bundesland unterschiedlich organisiert. Wir kommen unangemeldet, andere kommen angemeldet und so weiter. Ich könnte jetzt ganz viel erzählen, aber ich bekomme das Zeichen, dass wir so langsam zum Ende kommen müssen.
Wiebke Schubert
58:09 – 58:12
Und deshalb bedanke ich mich erstmal für das Gespräch.
Julia
58:13 – 58:43
Ja, wir bedanken uns sehr und ich finde wirklich, es war nochmal ein schönes Ende jetzt zu betonen, dass du durch die Besuchskommission zum Glück auch sehen konntest, dass sich Psychiatrien verbessern, also dass diese Horrorvorstellung, die man vielleicht noch an der einen oder anderen Stelle hat, auch durch eigene Erfahrung zum Glück nicht mehr der Realität entsprechen muss. Natürlich ganz, ganz herzlichen Dank für das Gespräch. Wir verlinken natürlich auch Wiebke, den Landesverband NRW und auch das Thema Besuchskommission noch mal in den Shownotes für alle, die sich dafür interessieren.
Julia
58:43 – 58:47
Und ja, Nele, übergebe an dich das letzte Wort.
Nele
58:47 – 59:07
Ja, ich bin auch ganz, ganz froh, dass du hier bei uns gewesen bist, Wiebke. Ich fand, das war noch mal ein sehr interessanter Eindruck, den wir da bekommen haben, wirklich von einer Person, die schon jahrzehntelang dieses Thema der Angehörigkeit kennt. Und wirklich auch jetzt diesen Wandel vielleicht so ganz gut beschreiben konnte.
Nele
59:07 – 59:17
Also es fand ich sehr, sehr spannend und freue mich, dass das jetzt hier wieder so zustande gekommen ist und so viel von mir. Dann sagen wir Tschüss und bis zum nächsten Mal.
Julia
59:18 – 59:37
Tschüss! Das war Unerhört Nah, der Podcast für Angehörige psychisch erkrankter Menschen. Dies ist ein Projekt des BApK mit Unterstützung der Barmer Krankenkasse. Hört nächstes Mal wieder rein, wenn wir mit Menschen sprechen, die verdammt nah dran sind.